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"Zeitenwenden"

Gedanken und Anregungen zum EFM-Jahresthema 2025
Drawing a Straight Line

FB 06-2025

1789 als Auftakt revolutionären Denkens und Handelns, der die Weichen für die Zukunft stellt.

 

Die aufklärerischen Tendenzen, die mit der französischen Revolution von 1789 ihren Anfang nahmen, entwickelten sich politisch und erlangten eine dramatische Dynamik, die bis in die Gegenwart anhält.

Die folgenden Thesen zeigen anhand der Hintergründe und der Wirkungsgeschichte auf, welche Anregungen sich aus den damaligen Ereignissen für die heutige Beschäftigung mit den Idealen von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit als individuelle und gesellschaftliche Handlungsziele und Forderugen an die Politik ergeben.

 

 

These 1 1789 als Zeitenwende

 

1963 schrieb Hannah Arendt:

Das moderne Konzept der Revolution, das untrennbar mit der Vorstellung verbunden ist, dass der Lauf der Geschichte plötzlich neu beginnt und sich eine völlig neue, nie zuvor bekannte oder erzählte Geschichte entfalten wird, war vor den beiden großen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts unbekannt. Bevor sie in das verwickelt wurden, was sich dann als Revolution herausstellte, hatte keiner auch nur die geringste Vorahnung von der Handlung des neuen Dramas. Die Revolutionen hatten ihren Lauf genommen. Und auch wenn die Beteiligten noch nicht wussten, ob sie mit ihrem Unternehmen siegreich sein oder eine Katastrophe erleben würden, wurde für die Schauspieler und Zuschauer gleichermaßen offensichtlich, wie neuartig die Geschichte war und wie tiefgründig ihre Handlung. Was die Handlung anbelangt, so handelt sie eindeutig von der Entstehung der Freiheit: Im Jahr 1793, vier Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution, konnte Robespierre seine Herrschaft als „Despotismus der Freiheit” bezeichnen, ohne der Paradoxie bezichtigt zu werden. Condorcet brachte auf den Punkt, was alle wussten: „Das Wort ‚revolutionär‘ kann nur auf Revolutionen angewandt werden, deren Ziel die Freiheit ist”.

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Hannah Arendt: Über die Revolution (On Revolution, New York 1963), dt. Ausgabe 1965.

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Dieser Vergleich der französischen (und amerikanischen) Revolution mit einem Bühnen-Drama über die Freiheitswurzeln, die zugleich despotisch waren, verdeutlicht, wie sehr das Geschehen inszeniert und zugleich improvisiert war. Er regt damit zum Nachdenken über Kontingenz- und Ambivalenzerfahrungen im privaten wie öffentlichen Raum und vor allem im medialen und politischen Geschehen an.

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These 2: Im Urteil der Zeitgenossen

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Schon im November 1789 führte Johann Melchior Hoscher, der Sekretär des Reichskammergerichts zu Wetzlar, die sehr rasch wachsende Aufsässigkeit der Untertanen in den Herrschaftsgebieten des Alten Reiches auf „die Rebellion in Frankreich" zurück.

Der französische Empörungsgeist habe sich wie ein elektrischer Schlag in vielen anderen Gegenden ausgebreitet und eine Art allgemeine Seuche erzeugt.

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Umgekehrt schrieb der Mainzer Revolutionär Georg Forster im Dezember 1792 über die Revolution,

dass es schrecklich und grässlich sein wird, sie durch das halsstarrige Bestehen auf die Fortsetzung des unglückseligsten aller Kriege unfehlbar vor der Zeit herbeizuführen.. Unser rohes, armes, ungebildetes Volk kann nur wüten, aber nicht sich constituieren.

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Holger Böning: Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit, München 1992.

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Die Zitate zeigen, dass sich in Deutschland kaum jemand für ein revolutionäres Zusammengehen mit dem Volk und den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Verhältnisse, also für die unmittelbare Übernahme des französischen Modells, begeistern ließ. Stattdessen setzte man eher auf Reformen. Dennoch wurde der philosophische Charakter der Revolution gewürdigt. Ende 1790 schrieb Friedrich Gentz, sie sei der erste praktische Triumph der Philosophie und das erste Beispiel einer Regierungsform, die auf Prinzipien und auf ein zusammenhängendes, konsequentes System gegründet wird. Damit sei sie ein Symbol für die unwiderstehliche Kraft dieser emanzipatorischen Ideen.

Ähnlich meinte Kant:

Ein solches Phänomen vergisst sich in der Menschengeschichte nicht. Es wird sich ein solches Phänomen in der Menschengeschichte nicht mehr vergessen, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat.

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Am 12. Juli 1791 schrieb Schubart in seiner „Chronik“:

Viele reiche und zum Teil auch geistvolle Köpfe aus Deutschland lassen sich jetzt in Straßburg nieder, um dort in einer weiteren und freieren Atmosphäre zu atmen. Gottlob, unser Vaterland ist noch kein Sklavennest. Noch gibt es Städte und Länder, in denen man mit edler Kühnheit und Freimütigkeit denken, reden – auch schreiben – darf, wie so viele im freiesten Geiste geschriebene Schriften beweisen, die fast von allen Orten Deutschlands auffliegen und wie Adler in den Lüften schweben. Ein braver Deutscher ist auch bescheiden und verlangt nie zu viel Freiheit.

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Karl August Hardenberg schrieb in seiner Rigaer Denkschrift von 1807:

Die Französische Revolution, wovon die gegenwärtigen Kriege die Fortsetzung sind, gab den Franzosen unter Blutvergießen und Stürmen einen ganz neuen Schwung. Alle schlafenden Kräfte wurden geweckt, das Elende und Schwache, veraltete Vorurteile und Gebrechen wurden – freilich zugleich mit manchem Guten – zerstört. Die Nachbarn und Besiegten wurden mitgerissen. Der Wahn, man könne der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der geltend gemachten Grundsätze entgegenstreben, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern und ihr eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß und sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, dass ein Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergang oder der erzwungenen Annahme derselben entgegensehen muss. Eine Revolution im guten Sinn, die zu dem großen Zweck der Veredelung der Menschheit führt, durch die Weisheit der Regierungen und nicht durch gewaltsame Impulse von innen oder außen – das ist unser Ziel, unser leitendes Prinzip.

 

Diese Charakterisierungen verweisen auf den engen Bezug zwischen Revolution und Aufklärung und laden dazu ein, über das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis nachzudenken. Gleichzeitig zeigen sie die oft unkontrollierte und unkontrollierbare Dynamik revolutionärer Prozesse. Diese sind auch über das historische Ereignis hinaus zu beobachten und zu diskutieren. Die Umsetzung der Menschenrechte in die Praxis stellt bis heute die größte Herausforderung für revolutionäre Prozesse dar.

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Holger Böning: Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit, München 1992.

vgl. Irmgard und Paul Hartig: Die Französische Revolution im Urteil der Zeitgenossen und der Nachwelt, Stuttgart 1983.

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These 3: Die Revolution im Urteil der Nachwelt

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Betrachtet man die Kommentare in den folgenden Jahrhunderten, so tritt immer mehr der Aspekt des Klassenkampfs in den Vordergrund, der sich in den Texten manifestiert. So beschrieb Friedrich Engels 1850 in seiner Darstellung des Bauernkriegs (1525) zugleich die Mechanismen der Revolutionen von 1789, aber vor allem der Revolution von 1848 in Deutschland:

Meine Darstellung versuchte, den geschichtlichen Verlauf des Kampfes nur in seinen Umrissen skizzierend, den Ursprung des Bauernkriegs, die Stellung der verschiedenen darin auftretenden Parteien, die politischen und religiösen Theorien, in denen diese Parteien über ihre Stellung Klarheit zu erlangen suchen, und schließlich das Resultat des Kampfes selbst, aus den historisch vorliegenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen dieser Klassen mit Notwendigkeit zu erklären. Also die damalige politische Verfassung Deutschlands, die Auflehnungen gegen sie, die politischen und religiösen Theorien der Zeit als Resultate der Entwicklungsstufe nachzuweisen, auf der sich damals in Deutschland Ackerbau, Industrie, Land- und Wasserstraßen sowie Waren- und Geldhandel befanden, nicht als Ursachen. Diese materialistische Geschichtsanschauung geht nicht von mir aus, sondern von Marx. Sie findet sich ebenfalls in seinen Arbeiten über die französische Revolution von 1848/49 in derselben Revue und im „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte”. Die Parallele zwischen der deutschen Revolution von 1525 und der von 1848/49 lag zu nahe, um damals gänzlich von der Hand gewiesen zu werden. Neben der Gleichförmigkeit des Verlaufs, bei der ein und dasselbe fürstliche Heer nacheinander verschiedene Lokalaufstände niederschlug, und der oft lächerlichen Ähnlichkeit des Auftretens der Städtebürger in beiden Fällen, brach doch auch der Unterschied klar und deutlich hervor: „Wer profitierte von der Revolution von 1525? Die Fürsten. Wer profitierte von der Revolution von 1848? Die großen Fürsten, Österreich und Preußen. Hinter den kleinen Fürsten von 1525 standen, sie an sich kettend durch die Steuer, die kleinen Spießbürger; hinter den großen Fürsten von 1848, hinter Österreich und Preußen, die sie rasch unterjochten durch die Staatsschuld, stehen die modernen großen Bourgeois. Und hinter den großen Bourgeois stehen die Proletarier.

 

Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, Berlin 1989.

 

Der von Engels zitierte Karl Marx schrieb kurz nach dem Deutsch-Französischen Krieg im Jahr 1871:

Und nun, gegenüber dieser neuen Welt in Paris, siehe da, die alte Welt in Versailles – diese Versammlung der Ghule aller verstorbenen Regimes, Legitimisten und Orleanisten, gierig, vom Leichnam der Nation zu zehren – mit einem Schwanz vorsintflutlicher Republikaner, die durch ihre Gegenwart in der Versammlung der Sklavenhalter-Rebellion zustimmten. Die die Erhaltung ihrer parlamentarischen Republik von der Eitelkeit des bejahrten Pickelhärings (Possenmachers, Hanswurst) an der Spitze der Regierung erhofften. Die 1789 durch die Abhaltung ihrer gespensterhaften Versammlungen im Jeu de Paume karikierten (Ballspielhaus, in dem die Nationalversammlung von 1789 ihre berühmten Beschlüsse fasste). Da war sie, diese Versammlung, die Vertreterin von allem, was in Frankreich abgestorben war, aufgestützt zur Positur scheinbaren Lebens durch nichts als die Säbel der Generale von Louis Bonaparte. Paris war die ganze Wahrheit, Versailles die ganze Lüge.

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Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Leipzig 1871.

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Ähnlich hatte Friedrich Engels mit dem Bekenntnis zu Thomas Müntzer als „plebejischen Revolutionär“ zugleich sein eigenes kommunistisches Programm interpretiert, wenn er schreibt:

Unter dem Reich Gottes verstand Müntzer aber nichts anderes als einen Gesellschaftszustand, in dem es keine Klassenunterschiede, kein Privateigentum und keine den Gesellschaftsmitgliedern gegenüber selbstständige, fremde Staatsgewalt mehr gibt. Sämtliche bestehende Gewalten, sofern sie sich nicht selbst auflösen und der Revolution anschließen wollten, sollten gestürzt werden; alle Arbeiten und alle Güter sollten gemeinsam genutzt werden und die vollständigste Gleichheit sollte durchgeführt werden. Ein Bund sollte gestiftet werden, um dies durchzusetzen – nicht nur über ganz Deutschland, sondern über die ganze Christenheit. Fürsten und Herren sollten eingeladen werden, sich anzuschließen. Wo dies nicht geschah, sollte der Bund sie bei der ersten Gelegenheit mit den Waffen in der Hand stürzen oder töten.

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Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, Berlin 1989.

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Ähnlich wie Hannah Arendt bemüht auch Marx das Bild einer Bühneninszenierung:

Wiederholt sich der große Autor? Geht ihm die Schöpfungskraft aus? Hat er das Drama, das er uns im Februar des vergangenen Jahres vorführte, nicht schon vor achtzehn Jahren ebenfalls in Paris aufführen lassen, und zwar unter dem Titel „Die Juliusrevolution”? Ich hatte einen guten Platz, um der Vorstellung beizuwohnen; ich hatte sozusagen einen Sperrsitz, da die Straße, in der ich mich zufällig befand, von beiden Seiten durch Barrikaden gesperrt wurde. Nur mit knapper Not konnte man mich wieder nach Hause bringen.

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Ähnlich charakterisiert auch Ernst Bloch in seiner Müntzer-Biografie seinen Helden im Sinne des revolutionären Geistes als klassenbewussten, revolutionären, chiliastischen Kommunisten.

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Ernst Bloch: Thomas Müntzer, der Theologe der Revolution, München 1921.

Karl Marx: Deutscher Idealismus und Französische Revolution, Schriften aus dem Karl-Marx-Haus Trier, Nr. 37.

Horst Günther (Hg.): Die französische Revolution. Berichte und Deutungen, Frankfurt 1985.

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These 4 Fazit

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Wenige Jahre nach Hannah Arendt setzte sich der Historiker Karl Griewank mit unterschiedlichen Revolutionsideen auseinander. Er kam – gewissermaßen als Fazit der bisherigen Darstellungen – zu dem Schluss: Während die Aufklärung Revolutionen als dynamische Prozesse und als notwendige gesellschaftliche Veränderungen verstand und Schriftsteller wie Rousseau und Montesquieu die Rolle von Freiheit und Vernunft in Revolutionen diskutierten und Voltaire die „Revolution der Geister” propagierte, zeigte sich im Jahr 1789, dass Revolutionen eine dynamische Kraft sind, die gesellschaftliche Umwälzungen bewirken können – sowohl als Chance für Fortschritt als auch als Bedrohung für bestehende Ordnungen. Dabei kommt er auch auf Hegel zu sprechen, der Revolutionen als notwendige Schritte in der Entwicklung des Geistes und der Freiheit sah und der die französische Revolution daher für ihre Abstraktion und den Übergang zur Gewalt kritisierte. Griewank geht auch auf Marx ein, dessen dialektische Theorie der Revolution die ökonomischen Bedingungen in den Vordergrund stellt. Marx betrachtete Revolutionen daher als notwendige Umwälzungen, die aus Klassenkämpfen resultieren und als Mittel zur Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft dienen.

Für die Romantik waren Revolutionen dynamische und transformative Kräfte, deren Energie von Schlegel und Novalis gewürdigt wurde. Die französische Revolution wurde jedoch als zerstörerisch statt erneuernd abgelehnt. Ähnlich kritisierten im Rahmen der Gegenrevolution konservative Denker wie Burke und Gentz die Revolution als Bedrohung für die bestehende Ordnung und plädierten stattdessen für „Evolution”.

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Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Berlin 1973.

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An dieser Stelle lässt sich diese umfangreiche Wirkungsgeschichte individuell fortsetzen, indem darüber reflektiert wird, wie sich die revolutionäre Dynamik nicht nur in den vergangenen Jahrhunderten wandelte, sondern auch aktuell in den globalen Veränderungsdiskursen nachvollziehen lässt. Gerade die jüngste Gegenwart ist geprägt von Aufständen, Massenprotesten und Revolutionen in allen Teilen der Welt, die ebenfalls eine Restauration zur Folge hatten und haben. Das führt zur aktuellen Frage, ob die Vorstellung, mit dem Alten zu brechen und Neues zu schaffen eine anthropologische Grundkonstante ist oder durch die globale Medialisierung und Kommerzialisierung zu einer „Zeitenwende“ wird.

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