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Wagnis Demokratie

Gedanken und Anregungen zum EFM-Jahresthema 2024
Drawing a Straight Line

Forumsblog zum "Prager Frühling"

Der Name "Prager Frühling" als Anspielung auf die "Tauwetter"-Periode nach 1953 begann, als Alexander Dubček zum neuen Ersten Sekretär der Kommunistischen Parte im Januar 1968 bestimmt wurde. Im April 1968 wurde ein Aktionsprogramm verabschiedet: "Der Weg der Tschechoslowakei zum Sozialismus", was als das wichtigste programmatische Dokument des sogenannten Prager Frühlings gilt.

Angesichts einer Situation, wo in Moskau europäische Demokratien als Feinde und der ehemalige Ostblock als erstrebenswertes Ideal angesehen wird, ist ein exemplarischer Rückblick aufschlussreich. 

Im Folgenden wird daher thesenartig aufgezeigt, welche Denkansätze sich aus der Vorgeschichte, dem Reformprozess und seinem Scheitern ergeben.

www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuel...as-reformprogramm-des-prager-fruehlings/

Günter Bischof/Viktor Iscenko/Michail Prozumenscikov/Peter Ruggenthaler/Oldrich Tùma/Manfred Wilke (Hrsg.), Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968.

These 1 Die Vorgeschichte seit 1953

Nach Stalins Tod endete in der Tschechoslowakei der Personenkult um ihn. Partei- und Staatschef Novotny führte seit 1957 sein Land durch vorsichtige Wirtschaftsreformen an die COMECON Spitze. 1964 stand er als einziger Ostblockführer der Absetzung Chruschtschows durch Leonid Breschnew kritisch gegenüber; zudem hatte er sich gegen die Stationierung sowjetischer Raketenbasen gestellt, zugleich aber auch– entgegen der allgemeinen Liberalisierung die Repressionspolitik fortgeführt. 1968 musste er als Erster Sekretär der KPC zurücktreten und wurde durch den slowakischen KP-Chef Alexander Dubček ersetzt. Novotny blieb Staatspräsident.

Diese kurze Skizze ermutigt zum Nachdenken und diskutieren, warum biografisch motiviertes politisches Engagement oftmals auf strukturelle Hindernisse stößt, d. h. warum einzelne Politiker mit ihren Anliegen scheitern, selbst wenn sie große Unterstützung in der Bevölkerung haben.

https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/68er-bewegung/52007/der-prager-fruehling/

Zur Vorgeschichte gehört auch eine Tagung anlässlich des 80. Geburtstages von Franz Kafka im Mai 1963 im barocken Schloss von Liblice, über die ein Jahr später unter dem Titel „Wer wird sich schon vor Kafka fürchten?“ ein Zeitungsartikel erschien. Dort diagnostizierte der Autor ein „kulturpolitisches Tauwetter“, das insbesondere in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen zu spüren sei: Der Reisende, der in diesem Sommer die Staaten Osteuropas besucht, wird – wenn er Vergleiche zu früheren Reisen anstellt – einen bemerkenswerten Wandel auch in der Kulturpolitik dieser Länder feststellen können. Zwar wäre es verfrüht, von einer völligen Liberalisierung zu sprechen, aber die Diskussion über die Möglichkeiten einer freieren Entfaltung der Kultur ist überall im Gange, der Ruf nach einem mehr an Freiheit ist überall zu hören und kann nicht mehr wie früher, zu Zeiten Stalins, mit administrativen Maßnahmen zum Verstummen gebracht werden.

Dieser Optimismus wenige Jahre vor dem sowjetischen Einmarsch ermutigt dazu, über die Rolle der Literatur für Demokratisierungsprozesse nachzudenken und zu diskutieren, z.B. im Blick auf außereuropäische Kontexte.

https://zeitgeschichte-online.de

These 2 Reformen

2.1 Die Reformansätze 1968

Bereits vor 1968 gab es in der Tschechoslowakei Personen in der KSČ, die z.B. wirtschaftliche Reformen anregen wollten und die die Altlasten des Regimes aus stalinistischer Zeit beklagten.

Oft zitiert wird dabei die Losung vom "Sozialismus mit menschlichen Antlitz", die an eine Textstelle des Aktionsprogramms angelehnt ist. Schwerpunkte des Aktionsprogramms

1. Entwicklung des Gesellschaftsmodells der "sozialistischen Demokratie"

2. Verzicht auf den absoluten Herrschaftsanspruch durch die KSČ

3. Bekenntnis zu einer weitgehenden Pressefreiheit

4. Einräumung von Bürgerrechten

5. Gewährung von Reisefreiheit

6. Stärkung des Parlaments, Auflösung von Machtzentren

7. Ausgleich zwischen Tschechen und Slowaken

8. Vereinbarkeit von Sozialismus und Unternehmertum sowie Wirtschaftsreformen

9. Abschaffung der Zensur in Kunst und Kultur

https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/267379/das-reformprogramm-des-prager-fruehlings/

https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/68er-bewegung/52007/der-prager-fruehling/

 

 

2.2. Manifest der 2000 Worte

Einige Monate vor der Niederschlagung der Demokratiebewegung verfassten am 27. Juni 1968 zahlreiche Intellektuelle und Arbeiter ein Manifest, in dem es u. heißt:

Zuerst bedrohte der Krieg das Leben unseres Volkes. Dann kamen weitere schlechte Zeiten mit Ereignissen, durch die seine Gesundheit und sein Charakter seelisch gefährdet wurden. Hoffnungsvoll nahm die Mehrheit des Volkes das Programm des Sozialismus entgegen. Doch seine Leitung geriet unrechten Menschen in die Hände. Es wäre nicht so schlimm gewesen, dass sie nicht genug staatsmännische Erfahrungen, Sachkenntnisse noch philosophische Bildung besaßen, wenn sie wenigstens über mehr Weisheit und Anständigkeit verfugten und es verstanden hätten, sich die Meinung anderer anzuhören, und wenn sie es zugelassen hätten, schrittweise durch fähigere Menschen abgelöst zu werden.....Wie nach dem Kriege, so haben wir auch im diesjährigen Frühling erneut eine große Gelegenheit. Wir haben wieder die Möglichkeit, unsere gemeinsame Sache, die den Arbeitstitel Sozialismus trägt, in die Hände zu nehmen und ihr eine Form zu geben, die besser unserem früheren guten Ruf als auch der verhältnismäßig guten Meinung entsprechen würde, die wir früher über uns hatten. Dieses Frühjahr ist eben beendet und kommt nicht mehr zurück. Im Winter werden wir alles erfahren.


Reformansätze und Manifest ermutigen dazu, sich und anderen Rechenschaft über die eigene demokratische Haltung auch in Krisenzeiten abzulegen, indem z.B. außereuropäische Demokratiebewegungen und die Rolle und Verantwortung Europas reflektiert wird.

https://www.herder-institut.de/digitale-angebote/dokumente-und-materialien/themenmodule/quelle/1486/details.html

 

These 3 Der Warschauer Pakt reagiert.

Die UdSSR, Ungarn, Polen, Bulgarien und die DDR forderten im Juli 1968 die Führung der KSČ auf, die angeblich vom westlichen Imperialismus unterstützte Offensive der Reaktion abzuwehren, die das Land vom Wege des Sozialismus abdrängt und die Interessen des ganzen sozialistischen Systems bedrohe. Diese Drohung wurde im August 1968 mit der Invasion des Warschauer Pakts in Prag wahr gemacht und der Traum von einem "dritten Weg" zerstört - trotz des zivilen Ungehorsams der Bevölkerung. Die Reformbewegung wurde im Keim erstickt, die Regierung nach Moskau entführt, wo Dubček das "Moskauer Protokoll" unterschreiben musste, das fast aller Reformprojekte annullierte und die Stationierung sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei vorsah.

Diese Erfahrungen regen dazu an, über Formein gewaltfreien Widerstandes und über Resilienz nachzudenken und zu diskutieren. Das kann. z.B. bedeuten, nach Resilienzfaktoren in unterschiedlichen Kontexten (Biografien, Literatur, gewaltfreien Projekten) zu suchen

https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/267379/das-reformprogramm-des-prager-fruehlings/

These 4. Verarbeitungen des Traumas

 

4.1. Kundera und der Prager Frühling

In seinem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins kommt Kundera in einer Szene auch auf den Prager Frühling 1968 zu sprechen: Die Invasion in die Tschechoslowakei im Jahre 1968 - so heißt es dort - wurde fotografiert, gefilmt und in allen Archiven der Welt deponiert, weil die tschechischen Fotografen und Kameraleute sehr wohl begriffen hätten, dass es ihre Aufgabe war, das einzige zu tun, was es noch zu tun gab: für die ferne Zukunft das Bild der Gewalt festzuhalten. Auch die Hauptakteurin Teresa hatte diese sieben Tage auf der Straße verbracht, um russische Soldaten und Offiziere in belastenden Situationen zu fotografieren. Die Russen wussten nicht, was sie tun sollten. Sie hatten genaue Instruktionen, wie sie sich zu verhalten hätten, wenn auf sie geschossen oder mit Steinen geworfen würde, aber niemand hatte ihnen Weisungen erteilt, wie sie zu reagieren hätten, wenn man ein Objektiv auf sie richtete. Teresa belichtete mehr als hundert Filme. Etwa die Hälfte davon gab sie unentwickelt an ausländische Journalisten weiter (die Grenze war noch immer offen, Journalisten kamen angereist, meist nur auf einen Sprung, und waren dank- bar für jedes Dokument). Viele ihrer Aufnahmen erschienen in verschiedenen ausländischen Zeitungen: darauf sah man drohende Fäuste, beschädigte Häuser, mit blutigen blau- weiß-roten Fahnen zugedeckte Tote, junge Leute auf Motorrädern, die mit rasender Geschwindigkeit um die Panzer kreisten und die Nationalfahne an langen Stangen schwenkten, Mädchen in unglaublich kurzen Miniröcken, die die armen, sexuell ausgehungerten russischen Soldaten provozierten, indem sie vor deren Augen unbekannte Passanten küssten. Wie bereits gesagt, die russische Invasion war nicht nur eine Tragödie, sondern auch ein Fest des Widerstanden, getragen von einer sonderbaren (niemandem mehr erklärbaren) Euphorie.

 

vdoc.pub/documents/die-unertrgliche-leichtigkeit-des-seins-roman-6kj925c6ct20

 

4.2 Heinrich Böll als Zeitzeuge

Ähnlich schilderte auch Heinrich Böll in seinem Essay „Der Panzer zielte auf Kafka“ , wie ein junger Mann, offenbar Westdeutscher und kein Journalist, beim Fotografieren erwischt wurde. Ein sowjetischer Soldat kam quer über den Platz vom Hus-Denkmal her auf den jungen Mann zu, der unter den Kolonnaden stand. Der Soldat hielt ihm die Maschinenpistole vor die Brust und verlangte die Kamera. Dem sowjetischen Soldaten war nicht wohl. Uns war auch nicht wohl. Ich hätte die Kamera sofort herausgerückt, selbst bei der Chance eins zu einhunderttausend, dass er nicht schießen würde. Es hat zu schnell einer, wenn auch nur aus Überreiztheit, den schwachen Druckpunkt einer MP durchgedrückt.

https://www.boell.de/de/2018/07/11/der-panzer-zielte-auf-kafka-heinrich-boell-prag-1968

 

Beide Schriftsteller ermutigen dazu, über eigene Erfahrungen mit Zivilcourage nachzudenken und solche Erfahrungen in der Literatur und anderen Kontexten zu entdecken 

4.3. Ota Sik, Lebenserinnerungen

Der stellvertretend Ministerpräsident und Wirtschaftsreformer schreibt in seinen Erinnerungen über das Prager Frühlingserwachen: Im Februar hatte Dubček seine engsten Mitarbeiter ausgewechselt und sich endlich mit jüngeren und reformfreudigeren Kadern umgeben. (...) Ab Ende Februar begannen die Medien die Bevölkerung immer offener und intensiver nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über die gegenwärtigen Vorgänge zu informieren. Die Menschen tauten schnell auf, auch wenn bei den Arbeitern noch relativ länger ein Misstrauen zu spüren war. Zu oft hatten sie schon Versprechen und Kehrtwendungen der Partei miterlebt, ohne dass sich etwas geändert hätte.

Und im Juli 1968: Der Parteitag [zur Bestätigung des neuen Kurses und zur Durchsetzung weiterer notwendiger personeller Änderungen] hätte organisatorisch Anfang Juni, wenn nicht sogar schon im Mai, bewerkstelligt werden können, also in einer Zeit, in welcher an einen militärischen Eingriff in den ‹Bruderländern› noch gar nicht gedacht wurde. Ebenso hätte eine schnellere Entfernung der konservativen und reaktionären Kräfte aus den führenden politischen Positionen nicht zu den ewigen Provokationen und schließlich zu dem ‹Hilferuf› an die Sowjetunion geführt. Gegen einen geeinten Parteitag, mit gewählter neuer Führung und klaren demokratischen und sozialistischen Zielen, hätte ein Einmarsch militärischer Kräfte nicht so leicht stattfinden können.

Diese Äußerungen zeigen die politische Bedeutung autobiografischer Reflexion und ermutigen dazu, sich weiter in dieser Kunst zu üben, indem z.B. ein politisches Tagebuch geführt wird, indem Ereignisse reflektiert und eingeordnet werden.

https://www.perseus.ch/wp-content/uploads/2012/03/Ota-Sik.pdf

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